Der folgende Text für eine Ankündigung stammt von Fedja, wurde aber von den Softies Jursachenko samt Täubchen Irina als zu brachial angesehen und deshalb nicht veröffentlicht.
Brandenburger Konzert
Eine Groteske nach Texten von Daniil Charms
Präsentiert durch SchauSpielRaum Feldkirch
Da kam ein LKW mit Leichen beladen. Junge Mädchen, die oben saßen, begannen die Leichen auf einen Haufen zu werfen wie Bälle. Als sie uns sahen, riefen sie uns etwas Lustiges zu und lachten [...]. Unsere Aufgabe bestand dann in der Sprengung der gefrorenen Erde für ein Massengrab [...]. So wurde ein riesiges Grab von einem halben Kilometer Länge ausgehoben. Wir nahmen die Leichen zu zweit an den Armen und Beinen und warfen die gekrümmten und erstarrten Menschenkörper in den Graben [...]. Einige Frauen sprangen in den Graben und begannen die Leichen so zu wenden, daß möglichst viele dort Platz finden konnten. (Bericht des Soldaten Iwan Koroljow aus dem belagerten Leningrad vom 27.12.1941. Echolot).

Vermutlich wurde auch der Leichnam des Dichters, Zauberkünstlers und Anarcho-Performers Daniil Charms Anfang Februar 1942 von scherzenden Mädchen in solch ein tiefgefrorenes Massengrab geworfen. Todesursache unbekannt, doch wahrscheinlich ist Charms in der psychiatrischen Abteilung des Leningrader Cresty-Gefängnisses im Alter von 37 Jahren verhungert. Nur durch Zufall hat sich sein Name und sein sonderbares Schrifttum in unsere Gegenwart hinübergerettet. Veröffentlicht hatte er zu Lebzeiten nur wenige kurze Texte, meist Kindergeschichten. Nachdem Charms im August 41 in einer Nacht- und Nebelaktion wegen “Verbreitung defätistischer Propaganda” verhaftet worden war (er wurde in Hausschuhen abgeführt), bargen Freunde alle Schriftstücke aus seiner kurz danach zerbombten Wohnung, bewahrten sie lose in einem Koffer auf und hielten sie 20 Jahre lang ängstlich unter Verschluss (alles andere wäre auch lebensgefährlich gewesen). Die erste offizielle russische Veröffentlichung datiert aus der Gorbatschow-Tauwetterperiode von 1988. Seit etwa 2000 expandiert die Rezeption des Schriftstellers auch im deutschsprachigen Raum. Heute gilt Daniil Charms neben Michail Bulgakow als wichtigster Vertreter der russischen Literatur der 30er Jahre. 2010 wurden Charms “Zwischenfälle” etwa am Wiener Burgtheater aufgeführt. Auch das Theater Wagabunt aus Dornbirn setzte Charms ?wann? auf seinen Spielplan.

Ein Rätsel der Literaturgeschichte, dass dieser Leningrader Avantgardekünstler, der neben einem abenteuerlichen Lebenslauf doch nichts als einen handgeschriebenen Zettelhaufen mit ungeordneten Minidramen, kleinen Gedichten und absurden Erzählungen hinterlassen hat, dermaßen populär werden konnte. Keinen Roman, kein abendfüllendes Theaterstück, kein Ding mit Einleitung, Hauptteil und Schluss hat er geschrieben, nichts was ein solider Literaturprofessor der Form nach als Literatur klassifizieren würde. Und zu allem Überfluss erschließen sich diese Textlein auch nicht auf Anhieb. Hier eines seiner berühmtesten:

Eine alte Frau lehnte sich zu weit aus dem Fenster, fiel hinaus und zerschellte.
Eine zweite alte Frau begann auf die Tote hinabzusehen, aber aus übergroßer Neugierde lehnte auch sie sich zu weit aus dem Fenster, fiel und zerschellte.
Dann fiel die dritte alte Frau aus dem Fenster, dann die vierte, dann die fünfte.
Als die sechste alte Frau aus dem Fenster gefallen war, hatte ich es satt ihnen zusehen und ging auf den Malcev-Markt, wo man - angeblich - einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte.


Erst als gesprochenes Wort und in einer szenischen Umsetzung gewinnt dieser Text Substanz. Man freut sich über die absurde Wendung am Ende, dann erkennt man darin eine Parabel auf die Neugierde der Menschen und deren Abstumpfung durch einen Überfluss an Ereignis, ein Umstand, der sich auch auf unsere neuigkeitshungrige Mediengesellschaft (oder auf die leichenwerfenden Mädchen aus Leningrad) münzen ließe. Außerdem lässt sich der Text wunderschön drastisch inszenieren, bietet Spielraum und Tiefe.
Charms versucht die Menschen als Menschen zu sehen, nicht als Freunde, Vorgesetzte, zahlendes Publikum etc. An einer Stelle sagt er: “Mich interessiert nur der Quatsch, was keinerlei praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung”. Und so tut sich zwischen den Zeilen - und im gesprochenen Wort - ein Panoptikum der menschlichen Grundbedürfnisse, der sozialen Interaktionen auf. Er beschreibt an einer Stelle einen Mann, der sich durch nichts auszeichnet, was an einem Mann so dran sein sollte, er hat keine Haare, keinen Bauch etc. Schlußsatz: Nichts hatte er. Am Besten also, wir sprechen nicht über ihn. Ein Mensch ohne Persönlichkeit? Ein Gespenst der Bürokratie? Eine Karikatur auf Sowjet-Funktionäre? Es wird damals wohl so verstanden worden sein. Interessanterweise bietet uns Bulgakow in seinem Roman “Meister und Margarita” ein ähnliches Bild: In einer Moskauer Amtsstube sitzt ein leerer Anzug, der stempelt und Schriftstücke ausfertigt. Bei Bulgakow treibt das die Augenzeugen in den Wahnsinn, Charms hingegen lacht das Gespenst aus und schenkt ihm keine weitere Beachtung. So funktioniert Subversion. Die Stasileute hatten nicht ganz unrecht mit ihrer “defätistischen Propaganda”.
Charms begleitete seine Vorstellungen stets mit selbst vorgeführten Zaubertricks, die Inszenierung stützte die Texte und umgekehrt. Und in diesem Zusammenhang möchte ich daran daran erinnern, dass Charms zu seinen Lebzeiten vor allem von Kindern sehr geschätzt wurde. Ich zitiere daher folgende Bemerkung seiner Kollegin Nina Gernet: “Die Kinder ließen sich von Charms’ finsterem Aussehen nicht täuschen. Sie hatten ihn nicht nur sehr gern, er verzauberte sie förmlich. Ich habe Charms oft auftreten sehen und hören. Und immer das gleiche. Der Saal lärmt. Daniil Charms kommt auf die Bühne und murmelt etwas. Nach und nach werden die Kinder still. Charms spricht nach wie vor leise und finster. Die Kinder lachen prustend. Dann verstummen sie – was sagt er? […] Dann konnte er mit den Kindern machen, was er wollte – sie schauten ihm atemlos auf den Mund, völlig gefangen vom Wortspiel, vom Zauber seiner Gedichte, von ihm selbst.”

In unserer Inszenierung von Charms-Grotesken (“Brandenburger Konzert” hieß übrigens ein Hund von Daniil Charms) haben wir uns um eine einigende Klammer der zahlreichen Minidramen bemüht. Eventuell die denkbar einfachste: Wir treten als Schauspieltruppe auf, die Daniil Charms inszeniert. Da versucht der Schauspieldirektor Fedja seine etwas heterogene Gruppe zu konzentrieren, er wird begleitet von seiner Tochter Natascha, misstrauisch beäugt von den Akteuren Jelisaweta, Porin, Kalugin, Irina und Juraschenko, behindert durch den obdachlosen Musiker Myschin.

Unsere Theatergruppe Schau Spiel Raum trat erstmals im Jahr 2000 auf, damals noch unter dem Namen Kellertheater Rheintal. In diesem Zeitraum wurden acht Stücke auf die Bühnen gebracht, zuletzt im Jahr 2010 “Ein Schloss”, ein Schauspiel von Iwan Klima, aufgeführt im Feldkircher Pförtnerhaus. Initiation, Motivation, Organisation und Regie besorgt seit Anbeginn Wolfgang Schnetzer. Seit mehreren Produktionen schon installiert Martin Beck das Bühnenlicht, Roland Adlassnig das Bühnenbild, und Aleksandra Vohl unterstützt uns als Co-Regisseurin. An der Produktion sind rund zwei Dutzend Personen in aktiven oder unterstützenden Funktionen beteiligt.

Aufgeführt wird das “Brandenburger Konzert” im Antiquariat Chybulski Feldkirch, das uns in der Vergangenheit oft als Probenlokal und schon einmal (2005) als Bühne diente.

Wahrscheinlich wird dies unsere letzte Produktion sein. Man soll aufhören, wenn’s am Schönsten ist. Aber man soll auch niemals nie sagen.